Für viele Bürger Europas und der EU, insbesondere für die Länder westlich von Polen, ist es im historischen Rückblick ziemlich schwierig, die Ukraine von Russland getrennt zu betrachten. In der Ukraine jedoch werden beide Staaten historisch getrennt betrachtet. Das heißt, die ukrainische Geschichte wird getrennt von der russischen Geschichte betrachtet, auch während des Zweiten Weltkriegs.
Ukrainische Historiker sind der Ansicht, dass die Ukraine-Frage am Vorabend des Zweiten Weltkriegs eine der schwierigsten Fragen (oder Situationen) in Europa war. Vor dem ersten Weltkrieg wurden die von den Ukrainern bewohnten Länder von zwei Imperien regiert. Auf Grund des erfolglosen Unabhängigkeitskampf der Ukrainer und des Versuchs, einen unabhängigen Staat in den Jahren 1917 bis 1920 zu gründen, wurde das von den ukrainischen Volksgruppen bewohnte Gebiet in vier Staaten aufgeteilt und jeder hat die ukrainische Frage nach eigenem Ermessen entschieden. Dementsprechend machten die ukrainische Bevölkerung sowie jene ethnischen Gruppen, die neben der ukrainischen Bevölkerung in den Territorien der modernen Ukraine lebten, in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts völlig unterschiedliche soziale, wirtschaftliche und politische Erfahrungen.
Für ukrainische politische Kräfte, die sich außerhalb der sogenannten Sowjetukraine befanden und auf den Positionen der Unabhängigkeit der Ukraine standen, blieb die vorrangige Frage, wie und auf welche Weise diese Unabhängigkeit erreicht werden kann. Zwischen 1921 und 1939 gab es zwei wichtige Zeitabschnitte, in denen die ukrainische Frage an die Oberfläche der europäischen Politik trat. Der erste Moment ist mit der Wende der 20er - 30er Jahre des 20. Jahrhunderts verbunden, als die Bolschewyky in der Ukraine eine Kollektivierung durchführten. Die gewaltsame Kollektivierung stieß bei der Bauernschaft auf großen Widerstand, was die Gespräche über eine mögliche Intervention Polens und Rumäniens und die Wiederbelebung der Ukrainischen Volksrepublik intensivierte. Nachdem die schreckliche Hungersnot von den Jahren 1932-33, künstlich von der bolschewistischen Regierung organisiert, die Ukraine erfasst hatte, war die Ukraine-Frage nicht länger Tagesordnung der europäischen Politik, da jeglicher Widerstand der Ukrainer gegen den Bolschewismus für einen gewissen Zeitraum unterdrückt wurde.
Der zweite internationale Auftritt der ukrainischen Frage war mit den berühmten Ereignissen um die Tschechoslowakei 1938-39 verbunden. Für viele Beobachter und den damaligen Bewohnern des modernen ukrainischen Transkarpatiens, damals des Karpatenvorlandes als Teil der Tschechoslowakei, wurde diese Region unerwartet zu einer der zentralen Regionen der großen Politik in Europa. Die Frage nach der Entstehung eines unabhängigen autonomen Gebietes, das räumlich von Prag in den Karpaten (oder vor den Karpaten, wenn man von Europa aus betrachtet) abgetrennt ist, sowie die Übergabe der Südslowakei und der Südkarparten-Ukraine an Ungarn, ist besonders für die Außenpolitik der Tschechoslowakei, aber auch für die Politik von Polen, Ungarn, der UdSSR und Deutschland von großer Bedeutung.
Berlin sah diese Autonomie als Chance, den Druck weiter auf die Prager Regierung auszuüben, um die Tschechoslowakei aufzulösen. Ungarn sah zeitgleich die Möglichkeit, die Gebiete zu erobern, die vor dem Vertrag von Trianon zum Königreich Ungarn gehörten. Polen wiederum erwog zwei Optionen: entweder Intervention und Annexion dieser Gebiete oder deren Anschluss an Ungarn und die Schaffung einer gemeinsamen Grenze zur Unterdrückung der ukrainischen Separatistenbewegung, wie sie in Warschau genannt wurde und die auf Galizien auszuweiten drohte.
Die Frage der Karpatenregion war auch von Bedeutung für den Kreml. Dies zeigte sich in den ersten Monaten des Jahres 1939. Anfang des Jahres 1939, hatte Berlin bereits die endgültige Liquidierung der verbliebenen Tschechoslowakei beschlossen, so dass die Frage der Karpaten-Ukraine von der westeuropäischen und nordamerikanischen Presse oft als erster Schritt zur Bildung einer Großukraine als Marionette unter deutschem Protektorat erwähnt wurde. Schon damals plante der nationalsozialistische Führer Adolf Hitler einen weiteren Grenzwechsel im ost- und mitteleuropäischen Raum und versuchte, den Kreml nicht vorschnell mit Gerüchten über eine mögliche deutsche Hilfe bei der Schaffung eines ukrainischen Staates zu irritieren.
Insbesondere am 30. Januar 1939, als Hitler zum Jahrestag der Machtergreifung sprach, erwähnte er den sogenannten Lebensraum, sprach von Afrika, nicht von Osteuropa, und versuchte so den Kreml zu beruhigen. Gleichzeitig wurden über die sowjetische Botschaft in Berlin aktiv Verhandlungen über eine mögliche Annäherung der europapolitischen Positionen beider Staaten geführt. Stalin wählte das höchste Rednerpult – dem Podium des 18. Parteitags der Kommunistischen Partei – um seinem Gegenüber zu antworten, und hielt am 10. März 1939 seinen berühmten Bericht ab. In diesem Bericht setzte er klare Prioritäten und identifizierte die Probleme, die den Kreml in den Beziehungen zu Deutschland am meisten irritieren. In seiner üblichen Weise beschuldigte Stalin die westliche Presse über viel Aufhebens um die Karpaten-Ukraine und um die von den Nazis entworfene Großukraine. Zusätzlich erwähnte er in seiner Rede, dass er glaube, es gäbe in Deutschland keine Wahnsinnigen, die glaubten, es sei möglich, die große Sowjetukraine mit den Miniaturkarpaten zu verbinden. In derselben Rede beschuldigte Stalin auch die westlichen Länder, Deutschland in den Krieg gegen die UdSSR gedrängt zu haben. Es ist offensichtlich, dass Hitler dieses Signal klar verstanden hat. Durch die Rede von am 10. März, begannen am 14. März ungarische Truppen gegen die Karpaten-Ukraine zu intervenieren, und dieses Problem in den Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR wurde beseitigt.
Zwei Wochen nach diesen Ereignissen, im April 1939, wurde der Kriegsplan gegen Polen endgültig genehmigt und das nationalsozialistische Deutschland nahm seine aktive Suche nach Verbündeten wieder auf, um den polnischen Staat letztendlich anzugreifen. Es ist klar, dass die westlichen Staaten wie Frankreich und Großbritannien, die diese Vorbereitungen beobachteten, sich der Gefahr einer Annäherung zwischen dem Kreml und Berlin sehr wohl bewusst waren. Sie boten deswegen Moskau im April 1939 einen Sicherheitspakt und ein gemeinsames Vorgehen an. Die sowjetische Seite verlangte ihrerseits, dass die Rote Armee ohne Rücksprache mit den dort stationierten Regierungen in der Ostsee und im Schwarzen Meer operieren dürfe.
Offensichtlich hat Berlin diese Verhandlungen zwischen Moskau, Paris und London mit Sorge verfolgt. Auf dem Weg zum Krieg gegen Polen zog Deutschland daher auch die Möglichkeit in Betracht, dass eine ukrainische Minderheit in Polen zu einem konstruktiven Verbündeten oder zu einer kriegsauslösenden Kraft werden könnte. Dies würde Berlin in die Lage versetzen, als Verteidiger dieser Minderheit aufzutreten. Es gab aber ein ernstes Problem des Misstrauens, da die meisten ukrainischen politischen Kräfte nach dem Zusammenbruch der Karpaten-Ukraine gegenüber deutschen Vorschlägen eher zurückhaltend waren.
Ohne Zweifel war das Misstrauen vorhanden, aber die ukrainischen Kräfte, die die Unabhängigkeit anstrebten, sind in die Rolle der Schwachen gedrängt worden. Die Anregungen, die sie daher aus der Hauptstadt eines mächtigen Staates erhielten, haben ihre Zweifel überwogen. Die Zusicherungen des deutschen Militärs und des Geheimdienstes an die politische Führung der ukrainischen Nationalisten, sowie die Übergabe der Karpaten-Ukraine an Ungarn, welcher ein erzwungener vorübergehender, taktischer Schachzug war, waren wirkungsvolle Anreize und A. Melnyk, der damals die OUN leitete, stimmte zu, seine Aktionen mit deutschen Geheimdiensten abzustimmen.
Als Zeichen des guten Willens half das Militär sogar, die gefangenen Karpaten-Sichovi Striltsi aus Ungarn zu befreien. Die ukrainische Karte, die von den Nationalsozialisten gespielt wurde, war jedoch nur eine Reservekarte. Das Hauptziel war es, Moskau zu überzeugen, Polen gemeinsam zu besiegen oder die Neutralität von Moskau während der Niederlage Polens zu gewährleisten. Daher konzentrierte die deutsche Diplomatie ihre Bemühungen in diese Richtung.
Am 12. August 1939 traf eine Delegation von Franzosen und Briten zu Gesprächen in Moskau ein, und am 16. August intensivierte Deutschland über seinen Botschafter in Moskau den Verhandlungsprozess mit Molotow. Moltow war dabei als Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR tätig. Bereits am 18. September hat Schulenburg der Regierung in Berlin mitgeteilt, dass eine Einigung in den wichtigsten Fragen erzielt wurde. Am 19. September wurde ein umfassender Handelsvertrag zwischen der UdSSR und Deutschland unterzeichnet, und Stalin kündigte im Politbüro des Zentralkomitees einen Annäherungskurs an Deutschland zur Zerstörung westeuropäischer Demokratien an. All dies endete mit der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts und einem geheimen Protokoll dazu.
Ich betone nur an einer Stelle - die ursprüngliche Karte der Aufteilung Polens in Einflusssphären, die durch die Flüsse Narev, Wisla und Sian verlief - dies ist sehr wichtig, weil es kein ethnographisches Prinzip war, das sich später auf die sowjetische Diplomatie bezog. Das ethnographische Prinzip entstand tatsächlich während des Septemberfeldzuges, als die Sowjets in den Krieg eintreten mussten, bevor die polnische Regierung das Land verließ. Dieser Moment ist wichtig, weil er den russisch-sowjetischen Mythos von Stalin als Sammler ukrainischen Landes vollständig zerstört. Stalin, wie auch Hitler, jonglierte und benutzte die ukrainische Frage für seine eigenen Zwecke am Vorabend des Krieges. Genau dies wiederholte sich 1940 in Rumänien und 1943 bis 1944, als die Westgrenzen der Sowjetukraine festgelegt wurden. Es ging dabei nicht um die ukrainischen Interessen, sondern um die Interessen der kommunistischen Weltrevolution. Dieses Vorhabe hatte für den Kreml immer die Priorität.
In meiner Rede möchte ich den Molotov-Ribbentrop-Pakt in den Mittelpunkt stellen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat diesen Pakt, die Motive der beiden Diktatoren sowie die Gründe und die Kooperation untersucht, die sich noch intensiviert hat. In letzter Zeit beschäftigen sich Wissenschaftler_innen in Deutschland intensiv mit diesem Thema und den Implikationen dieses Paktes für die Ukraine. Ich denke, dass in der Ukraine die Bedeutung des Paktes für die Ukraine als Staat und für die Ukrainer selbst noch nicht richtig eingeschätzt wurden.
Obwohl wir zu einer gemeinsamen Meinung gelangen, macht sich die unterschiedliche Herangehensweise zwischen deutschen und ukrainischen Historiker_innen sich auch in den Bewertungen des Freundschafts- und Grenzvertrags zwischen der UdSSR und Deutschland vom 28. September des Jahres 1939 bemerkbar.
Deutsche Historiker_innen sehen den Molotow-Ribbentrop-Pakt als notwendigen, wenn auch nicht als einzigen Faktor für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an. Der deutsche Ansatz unterscheidet sich von dem russischen – wir glauben, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Nichtangriffspakt handelte, wie Russland ihn präsentiert, ähnlich den Nichtangriffspakten anderer Staaten zu dieser Zeit.
Der Molotow-Ribbentrop-Pakt betraf nicht nur die geografischen Grenzen, sondern auch nationale Minderheiten und gesellschaftliche Gruppen. Dieser Einfluss ist bis heute spürbar. Die Quelle dieses Einflusses ist ein geheimes Protokoll zum Pakt, welches die Einflussgebiete in Osteuropa identifizierte. Tatsächlich ging es dabei um die Zerstückelung Polens, als Westweißrussland und die Westukraine der UdSSR beitraten. Dank dieser Vereinbarungen konnte Stalin eine groß angelegte Expansionspolitik verfolgen, die Teil der sowjetischen Ideologie der frühen 1930er Jahre war, als Ideologie eines expandierenden Imperiums. Diese Ideologie sah die Rückkehr der zaristischen Länder an die Grenzen des Sowjetimperiums vor.
Durch die Zustimmung zum Pakt vereinfachte Stalin Polen anzugreifen, wodurch Hitler den zweiten Weltkrieg beginnen konnte. Die UdSSR trat de facto mit dem Überfall auf Polen am 17. September des Jahres 1939 als Verbündeter Deutschlands in den Krieg ein und beteiligte sich damit an der Zerstückelung Polens.
Wir können lebhafte Analogien zwischen den Ereignissen vom September des Jahres 1939 und den Ereignissen vom März des Jahres 2014 – dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges – ziehen. Im September des Jahres 1939 erklärte die Sowjetregierung, es gebe weder eine polnische Regierung noch einen polnischen Staat, und die Sowjetregierung fühle sich verpflichtet, „ihre Brüder zu schützen“. In ähnlicher Weise erklärten die Russen im Jahr 2014 auch ihr Vorgehen damit, dass es im Donbass keine wirksame ukrainische Regierung gab und Russland gezwungen war, seine Brüder zu schützen.
Natürlich sind die Analogien zwischen den Ereignissen von den Jahren 1939 und 2014 nicht vollständig, aber es ist auffallend, dass wir Gemeinsamkeiten beobachten können – klar definierte Interessengrenzen, Abgrenzung von Einflusssphären, Instrumentalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen (die zu schützen sind) sowie Entscheidungsgemeinschaft ohne ihre Beteiligung.
Wichtig für die heutige deutsche Politik ist es, die Befürchtungen der Polen und Ukrainer zu berücksichtigen, dass die Großmächte die Anliegen jener Länder ohne deren Zustimmung lösen können. In diesem Zusammenhang tragen das Verständnis und die Untersuchung der Auswirkungen des Molotow-Ribbentrop-Pakts dazu bei, eine moderne und ausgewogene deutsche Politik aufzubauen.
In Deutschland wächst die Erkenntnis, dass der Pakt nicht nur für Polen und das Baltikum, sondern auch für die Ukrainer von großer Bedeutung war. Dabei ist den Deutschen wenig bekannt, dass für Ukrainer der Zweite Weltkrieg nicht am 22. Juni des Jahres 1941, sondern am 1. September des Jahres 1939 begann. Allein in der polnischen Armee dienten beispielsweise zwischen 100.000 und 150.000 Ukrainer, wodurch die Ukrainer die zweitgrößte ethnische Gruppe in der Armee waren. Die meisten von ihnen wurden im Jahr 1939 von den Deutschen oder den Sowjets gefangen genommen und etwa 8.000 starben.
Auch die sowjetische Armee bestand größtenteils aus Ukrainern. Die Ereignisse vom September des Jahres 1939 wurden als Befreiung der Ukrainer aus polnischer Gefangenschaft beschrieben, und die sowjetische Propaganda wählte für diese Zeit den Begriff „Goldener September“. Unter den Parolen „Zerstörung des herrschaftlichen Polen“ und „Vereinigung des ukrainischen Volkes“ drang die sowjetische Armee in das Gebiet der Westukraine ein. Die Propaganda vermischte die nationale Frage mit der sozialen.
Diese „Vereinigung der ukrainischen Länder“ wurde auch in die spätere Propagandaerzählung aufgenommen. Und obwohl dieser Mythos auf dem ethnischen ukrainischen Faktor beruht, löste dieser Mythos der „Vereinigung“ nur das Problem der sowjetischen Propaganda. Die Stabilität und Wirksamkeit zeigen sich daran, dass er auch bei der Bildung des Nationalbewusstseins der Ukrainer nach dem Jahr 1991 eine große Rolle spielte. In den Tagen des Nationalen Gedenkens erwähnte Präsident Kutschma den „Goldenen September“ als eine bedeutende Zeit in der ukrainischen Geschichte. Tatsächlich stellte er diese „Vereinigung“ auf eine Stufe mit der Vereinigung der Westukrainischen Volksrepublik und der Ukrainischen Volksrepublik im Jahr 1921. So wurde dieses Bild der sowjetischen Geschichtsschreibung von Kutschma als Bindeglied zwischen der nationalen Identität der Ukrainer und der Identität der Ukrainer als Sowjetperson verwendet. Für ukrainische Politiker war es schwierig zu erklären, dass am 17. September die Annexion stattfand, nicht die Vereinigung. Sie befürchteten, dass sonst andere Staaten Anspruch auf ukrainischen Territorien erheben würden - eine ähnliche Diskussion fand in den 1990er Jahren zwischen Polen und der Ukraine sowie zwischen Rumänien und der Ukraine statt.
An dieser Stelle ist es hinzuweisen, dass all diese Bedenken irrelevant sind, da der Pakt unbedeutend ist und die territoriale Integrität der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine international anerkannte Ordnung gewährleistet und im Unabhängigkeitsgesetz der Ukraine verankert ist.
Die glorreiche Vereinigung der ukrainischen Länder nach dem 17. September des Jahres 1939, die von der Bevölkerung begrüßt wurde, ist ein Mythos. Denn unmittelbar danach begannen sowohl im belarussischen als auch im ukrainischen Land schreckliche Repressionen - Verhaftungen und Hinrichtungen, Massendeportationen.
Der Pakt war die Apotheose der imperialen Denkweise. Für die meisten Deutschen ist das verständlich. Aber schon heute gibt es in Deutschland Ideen, die Ukraine und andere Länder sollten eine Art Pufferzone schaffen. Die Gefahr dieser Ideen besteht darin, dass sie Politiker zu einem Kompromiss überreden. Dadurch steigt einen eigenen Einflussbereich Russlands in diesem Bereich. Das Beispiel des Paktes zeigt, dass Einflusssphären, die die Interessen souveräner Staaten nicht berücksichtigen, keine Stabilität in die internationale Ordnung bringen. In Deutschland wurde einmal argumentiert, die Integration Polens und anderer Visegrad-Staaten in die NATO und die EU war angesichts der historischen Erfahrungen mit dem Pakt notwendig. Außerdem wurde argumentiert, dass es nicht nur um den Schutz vor der russischen Bedrohung ging, sondern auch, dass diese Länder von der Angst befreit werden sollten, wieder ein Trumpf zwischen anderen Ländern Europas zu sein.
Frage: Sowohl die sowjetische als auch die deutsche Propaganda gaben an, dass die Ukrainer sowohl diese als auch jene Besatzer willkommen hießen. Können Sie kommentieren worauf solche Aussagen basieren?
I.Patryliak: Hierbei sollten wichtige Punkte beachtet werden: Als die Rote Armee 1939 die moderne Westukraine und das moderne Westrussland besetzte, verwendete sie das propagandistische ukrainische Einheitsnarrativ. Es gab eigens gegründete Propagandagruppen, die Ukrainisch mit Ukrainern sprachen (Regisseur Dovzhenko, Commander Tymoshenko) sowie Propagandisten, welche Idish mit der jüdischen Bevölkerung sprachen. Damit wollte man demonstrieren, was die Rote Armee mit sich bringt und was für eine Bedeutung sie für die Bevölkerung hat. Natürlich konnte unter Bedingungen, unter denen zum einen ein bedeutender Teil der Ukrainer, besonders intellektuelle, von Einheit (Assoziation) träumte, und zum anderen unter Bedingungen, unter denen die polnische Regierung auf die ukrainische Minderheit drängte, diese Faszination für die Slogans der Roten Armee nicht anders, als zu entstehen. Bereits an der Wende von 1939 bis 1940 wurde jedem klar, dass Propaganda und die Realitäten des Lebens in der UDSSR unterschiedliche Dinge sind. Eine ähnliche Situation war im Sommer 1941 zu beobachten. Erst jetzt jonglierten die Nazis mit Hoffnungen für den ukrainischen Staat, und die erzwungene Sowjetisierung in Verbindung mit Deportationen und Repressionen gab dieser Propaganda guten Boden. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass die Wehrmacht 1941 nicht nur vom polnischen Teil der Ukraine, sondern auch vom sowjetischen Teil begrüßt wurde, weil man glaubte, dass es unmöglich sei, weiterzuleben.
W. Jilge: Ich unterstütze grundsätzlich, was Herr Patryliak gesagt hat, möchte jedoch noch eine Sache zu 1939 noch ergänzen. Die Sowjets haben nach dem Einmarsch mit den Repressionen auch zunächst eine flexible Nationalitätenpolitik angewendet. Um die Westukraine in die neue sowjetische Ordnung zu integrieren, wurden beispielsweise polnische Schulen oder die Universitäten in Lemberg ukrainisiert, was natürlich nach der polnischen Politik ein Fortschritt war. Zusätzlich gab es auch in sozialer Hinsicht, z. B. unter den ukrainischen Arbeitern zumindest zeitweise durchaus Gewinne. Aber insgesamt wurden diese ganzen Aspekte überlagert von einem ausgesprochenen brutalen Terrorregime.
Frage: Ich fand es als gebürtige und in deutschland-lebende Ukrainerin sehr spannend zu hören, dass es Aspekte oder gemeinsame Strukturen gibt, die man jetzt erkennt. Mich würde dabei interessieren, was man aus Sicht Deutschlands oder der Weststaaten tun könnte, um der Ukraine das Gefühl zu geben, eben nicht nur ein Spielball zu sein. Würde es ausreichen, wenn man die Annexion der Krim durch Russland nicht anerkennt?
W. Jilge: Ich denke, dass natürlich die konsequente Nichtanerkennungspolitik auch praktisch begleitet werden muss. Damit die Ukraine das Vertrauen hat, dass man diese Politik beibehält, muss man die Sanktionen immer wieder neu betrachten und überprüfen, man darf davon nicht abrücken und deutlich machen, dass dieser Konflikt, in dem die Ukraine steckt und an dem sie nicht schuld ist, unsere gemeinsame Sicherheitsordnung betrifft. Und damit die Ukraine auch entlastet wird und mehr Sicherheit hat (aber das gilt übrigens auch für Georgien und Moldowa), muss man begreifen, dass wir mehr für die Sicherheit, z. B. im Schwarzen Meer tun. Dies ist nicht nur für die Ukraine, sondern für die gemeinsame Sicherheit wichtig. Wenn die Erkenntnis eintritt, dass eine souveräne demokratische Ukraine in den völkerrechtlichen Grenzen im Interesse der europäischen Nachbarn der Ukraine ist, dann wird man auch viel konsequenter und klarer seine Politik ausrichten.
I. Patryliak: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs drängt uns zum Nachdenken über das Thema Gegenwart. Natürlich ist jeder Vergleich von Gegenwart und historischer Zeit relativ, aber die Lektion, dass es nie zu etwas Gutem führt, Aggressoren zu frönen, die die internationale Ordnung brechen, ist eine Lektion, die man auswendig lernen muss. Für die Ukraine und die Ukrainer ist nicht nur die Tatsache, dass die Big Player hinter uns die Agenda bestimmen können, traumatisch sondern auch das Verständnis dessen, dass wir unseren Staat für Jahrzehnte oder Jahrhunderte verlieren können.
Während wir uns unterhalten, begannen Militärmanöver um die ukrainischen Grenzen, das Fernsehen in Russland schürt Gerüchte, dass sie „2 Stunden brauchen, um Kyjiw zu erobern“. Und wir haben schon am Beispiel von 1939 gesehen, wie aus gewöhnlicher Propaganda Millionen Tote werden. Ich möchte die anwesenden deutschen Journalisten oder Politiker darum bitten, Propaganda nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn irgendwann könnte sie zu unserer Realität werden.
W. Jilge: Das ist ein wichtiger Punkt, worüber Sie gesprochen haben. Und ich fand es sehr positiv, dass der Aufsatz von Herrn Putin zum Hitler-Stalin-Pakt in Deutschland in der Öffentlichkeit weitgehend durchgefallen ist. Ich glaube, dass die Apologetik gegenüber dem Überfall auf Polen und der Beteiligung der Sowjet Union an der Zerschlagung des polnischen Staates in der deutschen Öffentlichkeit eher das Gegenteil von dem bewirkt haben, was Herr Putin möglicherweise wollte.
Frage: Uns ist bewusst, dass es tödlich sein kann, Diktatoren nachzugeben, und wir sind uns bewusst, dass der Start eines Projekts wie Nord-Stream-2 zu einem umfassenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte.
W. Jilge: Natürlich ist es so, dass es unterschiedliche politische Kräfte und unterschiedliche Sichtweise auf diese Dinge in Deutschland gibt. Was positiv an Nord Stream war, dass am Ende tatsächlich eine starke Debatte aufgekommen ist. Die Entscheidungsträger in Deutschland, für die das Jahr 2014 in der Mehrheit auch ein Schock war, nämlich dass diese liberale regelbasierte Ordnung in Gefahr kommt, sind noch auf der Suche nach der Rolle Deutschlands. Es gibt jetzt sehr hohe Erwartungen an Deutschland von verschiedenen Seiten, nicht nur von der Ukraine, aber auch von den westlichen Partnern. Deutschland, glaube ich, hat viele gute Dinge gemacht. Die Sanktionen gegen Russland angeht, werden vor allem von Deutschland zusammengehalten; es gibt europäische Staaten, die vor einer Einigung in Minsk diese wieder abbauen wollten. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben Sie Beispiele erwähnt, wo Deutschland diese positiven Schritte wieder neutralisiert. Ich glaube, dass wir eben in einer Übergangsphase sind, und ich stelle fest, dass es auch, z. B. in den Ämtern, im Außenamt, in den Parlamenten, ein immer größeres Interesse an dieser Frage gibt, und auch speziell an der Ukraine. Gerade sind wir in Deutschland dabei, überhaupt eine Strategie zu finden, wie wir mit dieser neuen Herausforderung für die Sicherheit umgehen. Wir investieren sehr viel, um die Ukraine innerlich zu stabilisieren, weil der Ukraine dadurch auch ermöglich wird, sich nach außen zu schützen, und auf der anderen Seite ist die Politik widersprüchlich. Das ist meines Erachtens ein Punkt, den wir eigentlich erst jetzt es beginnen zu merken. Wir müssen viel mehr Verantwortung übernehmen, aber es ist noch nicht allgemein klar, wo die Richtung hingehen soll. Das ist der Stand der Dinge aktuell. Aber was ich schon deutlich sagen muss, dass es, z. B. im Außenministerium, Referate gibt, die sich ganz stark mit der Ukraine befassen. Meines Erachtens gibt es so eine intensive Beziehung zwischen Deutschland und der Ukraine wie nie zuvor. Und das ist ein positiver Schritt, aber natürlich ist das auch bei uns eine Entwicklung, auch wir müssen erst diese Sache durchdebattieren. Es gibt einfach unterschiedliche Meinungen dazu.
Frage: Haben sie den direkten Kommunikationskanal mit diesen Ministerien?
W. Jilge: Wie andere Experten auch, werden wir gebeten, unsere Meinung zu äußern und unsere Vorschläge zu machen. Ich glaube, es tut sich gerade sehr viel, aber wir haben jetzt seit Monaten einen Vorwahlkampf, und auch mit Corona ist es sehr schwierig strategisch Neuausrichtung zu machen. Aber ich glaube, dass viel Positives schon auf dem Weg ist. Was ich schon sehe, dass das Interesse und das Wissen auch über die Ukraine, über Georgien, über die osteuropäischen Partner deutlich gestiegen ist. Das Einzige, was wir machen können, ist mit guten Argumenten zu überzeugen, aber mehr kann ich auch nicht machen.